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Vorhalten von Verdachtsberichterstattung zulässig


Das BVerfG lehnt Löschungsbegehren eines Artikels im Online-Pressearchiv ab

Eine Verfassungsbeschwerde, welche sich gegen die zivilrechtliche Zurückweisung eines Löschungsbegehrens gegenüber einem Online-Pressearchiv richtete, wurde am 07.07.2020 von der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nicht zur Entscheidung angenommen. In den Senatsentscheidungen zum „Recht auf Vergessen“ wurden Maßgaben für die Zulässigkeit eines langfristigen Vorhaltens von Presseberichten im Internet aufgestellt, welche von der Kammer mit dem Beschluss aufgegriffen wurde. Zudem konkretisiert sie für den Fall einer Berichterstattung über Verdachtslagen.

Die ursprüngliche Zulässigkeit einer Berichterstattung sei ein entscheidender Faktor für die Zulässigkeit einer über das Internet zugänglichen Archivierung. Im Normalfall würde dies auch eine unveränderte öffentliche Bereitstellung nach langer Zeit noch rechtfertigen, so die Kammer.

Besonders gesteigerte Anforderungen an die ursprüngliche Veröffentlichung solcher Berichte, deren öffentliches Vorhalten im Regelfall auch langfristig getragen wird, werden für die Verdachtsberichterstattung gestellt. Löschungs-, Auslistungs- und Nachtragsansprüche können jedoch nur in Ausnahmefällen erwachsen. Beispielsweise kann das Vorhalten einer ursprünglich berechtigten Verdachtsberichterstattung durch Zeitablauf oder durch zwischenzeitlich hinzugekommene Umstände eine die betroffene Person derart belastende Dimension gewinnen, was zu solchen Ausnahmefällen führen würde. Einen solchen Fall sah das BVerfG hier jedoch nicht.

Unternehmensberater beanstandet Pressebericht nach Korruptionsermittlungen bei Siemens

Zum Zeitpunkt des beanstandeten Presseberichts war der Beschwerdeführer Unternehmensberater und unterstützte verschiedene Unternehmen bei der Erschließung ausländischer Märkte. Unter anderem von der Firma Siemens erhielt der Beschwerdeführer Zahlungen im achtstelligen Bereich für seine Beratungsleistungen. 2007 wurden jedoch Korruptionsermittlungen gegen leitende Mitarbeiter der Firma Siemens öffentlich. Im Zuge dessen erschien in der Europaausgabe einer englischsprachigen Tagezeitung ein Artikel, welcher hauptsächlich am Beispiel des namentlich genannten Beschwerdeführers über die Rolle von Beratern bei der Beschaffung von Industrieaufträgen im Ausland berichtete. Eine gesteigerte Bedeutung komme weltweit seit einigen Jahren der Verteilung von Bestechungsgeldern über schwer zu durchschauende Kanäle durch Berater zu.

Neben weiteren Aspekten berichtet der Artikel von Aussagen leitender Siemens-Mitarbeiter – gegen welche zu dem Zeitpunkt strafrechtlich ermittelt wurde –, welche den Beschwerdeführer belasten. Auch wird in dem Artikel erwähnt, dass Siemens zu den Vorwürfen keine Stellung bezogen habe und dass die Staatsanwaltschaft erklärt habe, der Beschwerdeführer sei weder befragt noch beschuldigt worden. Er würde die Vorwürfe selbst abstreiten und mache geltend, dass er mehrfach erfolglos Korruptionsfälle intern angezeigt habe. Zudem blicke er einem etwaigen Anruf der Staatsanwaltschaft gelassen entgegen. Auch ein förmliches Ermittlungsverfahren wurde gegen den Beschwerdeführer nicht eröffnet.

Der beanstandete Artikel ist in teilweise abgeänderter Form infolge teilstattgebender Gerichtsentscheidungen weiterhin online verfügbar.

Die Zivilgerichte wiesen das Unterlassungsbegehren des Beschwerdeführers hinsichtlich des Verdachts, dieser habe für die Firma Siemens Bestechungsgelder in großem Umfang an potentielle Kunden gezahlt, ab. Die Veröffentlichung des Artikels sei zu dem Zeitpunkt rechtmäßig gewesen, da es sich um eine zulässige Verdachtsberichterstattung gehandelt habe. Auch die Tatsache, dass der Bericht weiterhin im Online-Archiv zum Abruf zur Verfügung stünde, greife nicht rechtswidrig in das Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers ein. Der Presse komme eine wichtige Aufgabe zu, auch individualisierend über Ereignisse des Zeitgeschehens zu berichten. Auch bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse an Bestechungsvorwürfen in Millionenhöhe, was schlussendlich die Beeinträchtigung des Beschwerdeführers rechtfertige.

Daraufhin reichte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Ergänzung eines klarstellenden Nachtrags über die Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens ein, welcher jedoch als prozessual verspätet und im Übrigen als unbegründet vom BVerfG abgelehnt wurde.

Einschränkende Maßnahmen sind nur in Ausnahmefällen bei gravierenden Folgen zumutbar

In der ersten wesentlichen Erwägung der Kammer des BVerfG hat diese auf die Senatsentscheidungen zum „Recht auf Vergessen“ verwiesen. Das öffentlich zugängliche Vorhalten eines Berichts, insbesondere in Online-Pressearchiven, sei nach dessen Zulässigkeit anhand einer neuerlichen Abwägung der im Zeitpunkt des jeweiligen Unterlassungsbegehrens bestehenden gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen zu beurteilen. Die ursprüngliche Zulässigkeit eines Berichts sei hier von wesentlicher Bedeutung, welche ein gesteigertes berechtigtes Interesse von Presseorganen begründe, ihn ohne Änderung der Öffentlichkeit dauerhaft verfügbar zu halten. In diesem Fall habe die Presse bei der Veröffentlichung bereits die für sie geltenden Maßgaben beachtet und könne daher im Grundsatz verlangen, sich nicht erneut mit dem Bericht und seinem Gegenstand befassen zu müssen. Einschränkende Maßnahmen sind hingegen nur in Ausnahmefällen zumutbar, z.B. wenn die Folgen von ursprünglich zulässigen Berichten in Online-Pressearchiven für die Betroffenen besonders gravierend sind.

Verdachtsberichterstattung gehört zu den Aufgaben der Presse

Die Kammer des BVerfG führt weiter aus, dass Verdachtsberichterstattungen zu den Aufgaben der Presse gehöre und somit auch investigativ, individualisierend und identifizierend über Verdächtigungen von hohem öffentlichen Interesse zu berichten. Verdachtslagen, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten gehören zur sozialen Wirklichkeit, womit die Bereitstellung von Informationen Merkmal, Freiheit und Aufgabe der Presse sei. Unerwiesene Verdächtigungen seien hiervon nicht ausgeschlossen, denn auch sie können von berechtigtem öffentlichen Interesse sein. Insbesondere der mangelnden Aufklärbarkeit von Verdachtslagen kann dabei öffentliche Bedeutung zukommen. Dies führe dazu, dass sich ein Veröffentlichungs- und Bereithaltungsinteresse der Presse nicht grundsätzlich schon durch die Einstellung oder Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens erübrige.

Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts kommt hohes Gewicht zu

Die Kammer des BVerfG gibt allerdings auch zu bedenken, dass bei einer Verdachtsberichterstattung die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts regelmäßig von erhöhtem Gewicht sei. Der Betroffene bleibe dabei einem Verdacht ausgesetzt, der möglicherweise nicht den Tatsachen entspreche und der womöglich zwischenzeitlich schon ausgeräumt wurde. Dies bewirke, dass Betroffene dauerhaft einer negativen Wertung ausgesetzt sein können, welche sie möglicherweise nicht durch ihr eigenes Handeln zu verantworten haben. Zudem könne das öffentliche Interesse an einem längerfristigen Vorhalten eines Berichts, je nach Inhalt des Verdachts, geringfügiger sein als bei feststehenden Tatsachen.

Verdachtsberichterstattung unterliegt strengen rechtlichen Maßstäben

Aufgrund dieser möglichen Beeinträchtigung durch eventuell unwahre Tatsachen, unterliegt die ursprüngliche Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung strengen rechtlichen Maßstäben. Eine zulässige Verdachtsberichterstattung hat immer einen Vorgang von erheblichem Gewicht, d.h. ein besonders gesteigertes Berichterstattungsinteresse, zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung zur Voraussetzung. Daneben gibt es noch das Erfordernis einer Stellungnahmemöglichkeit sowie das Verbot vorverurteilender Berichterstattung. Hiermit solle sichergestellt werden, dass die Betroffenen selbst zu Wort kommen können und der Bericht nur den Eindruck eines noch nicht geklärten Verdachts vermittle. Im Gegensatz zu einer dauerhaft vorgehaltenen Mitteilung von unstrittig wahrer Tatsachenberichterstattung seien die Betroffenen in den Augen ihres sozialen Umfelds hier also nicht für alle Zeit auf einen Umstand festgelegt.

Nachtragsansprüche müssen die Freiheit der Presse unangetastet lassen

Nachtragsansprüche dürfen die Freiheit der Presse, ihre Berichterstattungsgegenstände selbst zu wählen und nicht zu neuerlichen Nachforschungen und Bewertungen vergangener Berichterstattungsgegenstände verpflichtet zu werden, nicht antasten. Ein Nachtragsanspruch kann nicht allein durch die Bekanntgabe des Umstands einer Einstellung oder Nichtaufnahme strafrechtlicher Ermittlungen ausgelöst werden, da hierfür verschiedenste Gründe wie etwa Beweisnot oder staatsanwaltliche Priorisierungsentscheidungen ausschlaggebend sein können, die den Verdacht der Sache nach weder entkräften noch ausräumen.

Beeinträchtigung für den Beschwerdeführer im sozialen Umfeld nicht gravierend

Grundsätzlich haben die Gerichte erkannt, dass die Zulässigkeit des weiteren Vorhaltens eines Presseberichts im Lauf der Zeit Veränderungen unterliegen kann und im Zeitpunkt des Unterlassungsbegehrens durch Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich erheblichen Belange zu beurteilen ist. Dies ist die Grundlage für die Annahme, dass die ursprüngliche Zulässigkeit einer Veröffentlichung ein entscheidender Faktor der Beurteilung sei.

Die besonders gesteigerte gesellschaftliche Bedeutung der in dem Artikel beschriebenen Vorgänge und des darin geäußerten Verdachts würden den anlassgebenden Missstand an einem konkreten Beispiel fassbar und plastisch machen und somit rechtfertigen.

Die Gerichte deuten zudem darauf hin, dass der beanstandete Bericht bei einer Suche anhand des vollständigen Namens des Beschwerdeführers nicht mit hoher Priorität kommuniziert werde. Es sei daher nicht anzunehmen, dass der Beschwerdeführer in seinem sozialen Umfeld gravierend beeinträchtigt werde, da es nicht erkennbar sei, dass Dritte bei einer unvoreingenommenen Namenssuche im Internet in unzumutbarer Weise auf den Bericht stoßen.

Kein Nachtragsanspruch wegen mangelnder Veränderung der Sachlage

Zuletzt führt die Kammer des BVerfG auf, dass die Gerichte zurecht davon ausgegangen seien, dass ein Anspruch auf einen klarstellenden Nachtrag mangels einer klar feststellbaren Veränderung der Sachlage nicht bestand – es fand nicht etwa ein Freispruch oder eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO statt.

Aus den Schreiben, welche der Beschwerdeführer vorlegte, habe sich keine objektive und ohne eigene Recherchen feststellbare Veränderung der Sachlage ergeben. Der Umstand, dass es nie zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren kam, reiche allein für eine Zuerkennung von Nachtragsansprüchen nicht aus. Andernfalls käme im Bereich strafrechtlich erheblicher Sachverhalte der Nichteröffnung staatsanwaltlicher Verfahren die Wirkung zu, das Vorhalten zulässiger Verdachtsberichterstattung regelmäßig auszuschließen.


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